Das Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel und das Kiel Instituts für Weltwirtschaft haben eine erste Studie veröffentlicht, die analysiert was militärisch erforderlich wäre um die Europäer in die Lage zu versetzen sich ohne die USA gegen Russland zu verteidigen. Allerdings gilt es diese Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen, da es sich um eine makroökonomische Top-down-Schätzung handelt. Die grobe Richtung dürfte jedoch stimmen. Hier eine Zusammenfassung:
Europa muss in der Lage sein, sich gegen Russland zu verteidigen – unabhängig von den Vereinigten Staaten. Während der Krieg in der Ukraine für Russland teuer war, hat die umfassende Mobilisierung von Gesellschaft und Industrie dazu geführt, dass das russische Militär heute größer, erfahrener und besser ausgerüstet ist als 2022. Die russische Armee verfügt nun über erhebliche Kampferfahrung, die weltweit – abgesehen von der Ukraine – unerreicht ist.
Ende 2024 waren rund 700.000 russische Soldaten in der Ukraine stationiert – weit mehr als zu Beginn der Invasion. Gleichzeitig hat Russland seine Rüstungsproduktion massiv gesteigert, mit einer 220-prozentigen Zunahme der Panzerproduktion, 150 Prozent mehr gepanzerten Fahrzeugen und Artilleriesystemen sowie einer Verfünffachung der Produktion von Langstreckendrohnen. Zwar basiert der Großteil dieser Ausrüstung noch auf modernisiertem sowjetischem Material, doch Russland hat auch erhebliche Fortschritte in der Drohnentechnologie gemacht.
Ein russischer Angriff auf ein EU-Land ist nicht auszuschließen. NATO-Analysen gehen davon aus, dass Russland innerhalb von drei bis zehn Jahren angriffsfähig sein könnte – möglicherweise früher, insbesondere im Zusammenhang mit den für 2025 geplanten Zapad-Manövern in Belarus. Diese Übungen werden Russlands Fähigkeit demonstrieren, auch während eines laufenden Krieges groß angelegte Operationen zu koordinieren.
Unterstützung der Ukraine als Schlüssel zur Abschreckung
Um Europa zu schützen, ist die weitere Unterstützung der Ukraine essenziell. Das ukrainische Militär ist derzeit die effektivste Abschreckung gegen einen russischen Angriff auf die EU. Sollte die Ukraine ein mögliches US-russisches Abkommen ablehnen, könnte Europa zusätzliche Waffen liefern, um ihre Kampffähigkeit aufrechtzuerhalten. Zwar sind die Ukraine und die EU in einigen Bereichen auf strategische US-Ressourcen wie Satellitenkommunikation angewiesen, doch Alternativen sind im Notfall verfügbar.
Finanziell könnte Europa die US-Hilfe ersetzen: Seit 2022 haben die USA 64 Milliarden Euro an militärischer Unterstützung bereitgestellt, während Europa inklusive Großbritannien 62 Milliarden Euro beigesteuert hat. 2024 betrug der US-Anteil an den Gesamtmitteln 20 von 42 Milliarden Euro. Um die US-Hilfe zu kompensieren, müsste die EU nur 0,12 Prozent ihres BIP zusätzlich aufwenden – eine machbare Summe. Die größere Herausforderung wäre jedoch, diese Unterstützung ohne die US-Rüstungsindustrie sicherzustellen.
Europas militärische Kapazitäten ausbauen
Sollte die Ukraine einen Friedensschluss akzeptieren, würde Russland voraussichtlich weiter aufrüsten, was eine noch größere Bedrohung für die EU darstellt. Die EU und ihre Verbündeten, darunter das Vereinigte Königreich und Norwegen, müssten dann sofort und massiv aufrüsten. Eine glaubwürdige Abschreckung erfordert laut NATO-Analysen die Kampfkraft von 300.000 zusätzlichen Soldaten, was etwa 50 neuen europäischen Brigaden entspricht.
Europa hat zwar 1,47 Millionen aktive Soldaten, doch die Effektivität wird durch die fragmentierte Struktur nationaler Armeen eingeschränkt. Die US-Streitkräfte würden im Ernstfall in geschlossenen Korps-Verbänden mit einer einheitlichen Befehlskette und strategischer Unterstützung operieren. Um diese Lücke zu schließen, muss Europa entweder seine Truppenstärke um 300.000 Soldaten erhöhen oder die militärische Koordination erheblich verbessern. Fehlende Zusammenarbeit würde zu stark steigenden Kosten und unzureichender Abschreckung führen.
Erhöhung der Produktionskapazitäten
Eine rasche Verstärkung der europäischen Streitkräfte erfordert eine massive Erhöhung der Produktion von Panzern, Schützenpanzern und Artillerie. Schätzungen zufolge wären für eine glaubwürdige Abschreckung zusätzliche 1.400 Kampfpanzer, 2.000 Schützenpanzer und 700 Artilleriesysteme erforderlich – mehr als derzeit in Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien zusammen verfügbar sind. Ebenso müssten die Munitionsvorräte drastisch aufgestockt werden, etwa mit mindestens einer Million 155-mm-Granaten für 90 Tage intensiver Kämpfe.
Darüber hinaus muss Europa seine Luft-, Transport- und Drohnenkapazitäten massiv ausbauen. Insbesondere müsste die Drohnenproduktion auf russisches Niveau gehoben werden – auf 2.000 weitreichende Loitering-Munitions-Drohnen pro Jahr. Parallel dazu müssten 300.000 neue Soldaten rekrutiert und ausgebildet werden.
Um dies zu erreichen, wäre eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben erforderlich. Derzeit liegt der Anteil für Ausrüstung bei 0,7 Prozent des BIP. Länder wie Polen haben bereits gezeigt, dass 70 Prozent zusätzlicher Verteidigungsausgaben in Rüstungsgüter investiert werden können. Doch um eine nachhaltige Verteidigungsstrategie zu gewährleisten, müsste künftig mehr in Rekrutierung und Ausbildung investiert werden.
Europaweite Beschaffung und Kostenreduktion
Eine europaweite Bündelung der Rüstungsbeschaffung wäre entscheidend, um Kosten zu senken. Große Sammelbestellungen könnten die Stückpreise erheblich reduzieren. Statt kostenintensiver Verträge (cost-plus) sollten Anreize geschaffen werden, um die Produktionskosten zu senken. Beispielsweise könnte eine Bestellung von 1.400 Leopard-II-Panzern im Vergleich zu Deutschlands bisherigen Käufen für 28 Millionen Euro pro Stück deutlich günstiger ausfallen.
Auch im Drohnenbereich sind Skaleneffekte möglich: Die deutsche Firma Helsing plant die Produktion von 6.000 weitreichenden Drohnen für die Ukraine, was die EU in die Lage versetzen würde, mit Russland gleichzuziehen. Die European Sky Shield Initiative spielt dabei eine Schlüsselrolle zur Sicherung des europäischen Luftraums.
Ziel muss sein, europäische Unternehmen in einen Wettbewerb um Großaufträge zu bringen, anstatt direkte staatliche Eingriffe vorzunehmen. Zudem könnten ungenutzte Kapazitäten in der Automobilindustrie genutzt werden, um Produktionsengpässe zu vermeiden.
Finanzierung der Verteidigungsanstrengungen
Um diese Maßnahmen umzusetzen, müssten die europäischen Verteidigungsausgaben weit über die derzeitigen 2 Prozent des BIP hinaus steigen. Eine jährliche Erhöhung um 250 Milliarden Euro (etwa 3,5 Prozent des BIP) wäre kurzfristig erforderlich. Eine massive Erhöhung der Nachfrage könnte die Preise kurzfristig treiben, doch langfristig sollten die Stückkosten bei Großbestellungen sinken.
Makroökonomisch betrachtet könnte eine schuldenfinanzierte Erhöhung der Verteidigungsausgaben die europäische Wirtschaft sogar stabilisieren – besonders angesichts eines drohenden Handelskriegs. Zwar könnten Zinsen und Inflation steigen, doch Verteidigungsausgaben könnten auch durch Innovationen langfristig zum Wirtschaftswachstum beitragen.
Deutschlands Schlüsselrolle in der europäischen Verteidigung
Deutschland wird eine zentrale Rolle spielen. Eine mögliche Lösung wäre, dass die EU jährlich 125 Milliarden Euro für fünf Jahre bereitstellt, während die Mitgliedstaaten schrittweise ihren nicht-schuldenfinanzierten Anteil erhöhen.
Deutschland müsste allein mindestens 50 Prozent dieser Summe tragen um seine Verteidigungsausgaben von 80 auf 140 Milliarden Euro jährlich (3,5 Prozent des BIP) zu erhöhen. Aktuell liegt Deutschland weit hinter seinen NATO-Verpflichtungen zurück – insbesondere das Ziel, zwei Divisionen mit 40.000 Soldaten bis 2025/2027 bereitzustellen, ist gefährdet.
Damit Deutschland seiner geopolitischen Verantwortung gerecht wird, müsste es mindestens 100.000 zusätzliche Soldaten rekrutieren und seine militärischen Kapazitäten drastisch ausbauen. Dies würde eine glaubwürdige Abschreckung gewährleisten und Europas Verteidigungsfähigkeit nachhaltig stärken.
Zum nachlesen: