Die Europäer sollen die Verantwortung für die konventionelle Abschreckung und Verteidigung auf dem Kontinent übernehmen. Als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land in Europa kommt Deutschland dabei eine Schlüsselrolle zu. In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, ob Deutschland jetzt, aufgrund der veränderten Weltlage, von einer Friedensmacht zur Militärmacht wird.
Finanzierung
Als Reaktion auf diese veränderte Weltlage haben sich Union und SPD bereits vor den Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, die Ausgaben für Verteidigung größtenteils von der Schuldenbremse ausnehmen zu wollen. Nach einigem Hin und Her ist es dann auch so gekommen. Von nun an sind Verteidigungsausgaben, die 1 % des BIP übersteigen, von der Schuldenbremse ausgenommen. Eine Obergrenze gibt es nicht. Whatever it takes ist nun auch das Motto bei der Verteidigung, so Friedrich Merz. Sollte die NATO das Zwei-Prozent-Ziel auf dem NATO-Gipfel im Juni also auf 3 oder gar 3,5 % erhöhen, könnte Deutschland dieses neue Ziel vergleichsweise schnell und einfach erreichen. Neben der Bundeswehr werden auch der Zivil- und Bevölkerungsschutz, die Nachrichtendienste, der Schutz der informationstechnischen Systeme und die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten von dieser neuen Regelung profitieren. Denn der Begriff der Verteidigungsausgaben wurde auf Bestreben der Grünen auf diese Bereiche erweitert.
Dies schafft der zukünftigen Regierung allerdings auch einiges an neuem Spielraum im Bundeshaushalt. Der Regierungsentwurf des Haushalts 2025 sieht 53,25 Milliarden Euro für die Bundeswehr, 1,4 Milliarden Euro für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie Verfassungsschutz und BSI, 1,2 Milliarden Euro für den Bundesnachrichtendienst und 7 Milliarden Euro an Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten vor. Insgesamt 62,8 Milliarden Euro. Bei einem geschätzten BIP von 4,4 Billionen Euro im Jahr 2025 sind 1 % jedoch nur 44 Mrd. Euro für Verteidigung, die auf die Schuldenbremse angerechnet werden. Dadurch entsteht ein neuer Spielraum von 18,8 Mrd. Euro, der der künftigen Regierung zur freien Verfügung steht. Haushaltspolitisch ist diese neue Regelung also nicht sonderlich ambitioniert, aber immerhin scheitert es bei der Verteidigung in Deutschland von nun an nicht mehr am fehlenden Geld.
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Finanzbedarf
Womit wir zu den finanziellen Bedarfen der deutschen Verteidigung kommen. Hier haben Christian Mölling, Torben Schütz und Noah Heinemann eine erste Berechnung vorgelegt, die ich euch an dieser Stelle kurz vorstellen möchte. Für das aktuell gültige Fähigkeitsprofil bis 2031 liegt der Gesamtbedarf bei rund 270 Milliarden Euro. Abzüglich der 100 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen der Bundeswehr liegt der reale Bedarf noch bei rund 170 Mrd. Euro über die nächsten fünf bis zehn Jahre. Den finanziellen Bedarf für die neuen NATO-Fähigkeitsziele, welche auf dem NATO-Gipfel im Juni beschlossen werden sollen, schätzen die drei Forscher auf 120 Milliarden Euro über die nächsten 15 bis 19 Jahre.
Um die US-Truppen und Enabler zu ersetzen, bedarf es schätzungsweise weiterer 30 bis 40 Milliarden Euro. Zusammengerechnet ergibt dies einen zusätzlichen finanziellen Bedarf nach rund 330 Milliarden Euro bis 2040. Inflationsbereinigt sogar 392 Milliarden Euro. Hinzu kommen zusätzliche Personal- und Betriebsausgaben über den genannten Zeitraum von rund 218 Milliarden Euro. Insgesamt also zusätzliche 610 Milliarden Euro bis 2040, um die Bundeswehr kriegstüchtig zu machen. Um diesen finanziellen Bedarf zu decken, sind jährliche Ausgaben von rund 2,7 % des BIP bis 2040 erforderlich. Nur für die aktive Truppe. Nicht berücksichtigt sind die finanziellen Bedarfe für die Reserve der Bundeswehr und die Gesamtverteidigung.
Personal
Neben den neuen finanziellen Spielräumen steht auch ein personeller Aufwuchs der Bundeswehr zur Debatte. Aktuell verfügt die Truppe über rund 181.000 aktive Soldaten. Bis 2031 sollen es 203.000 aktive Soldaten werden. Bei diesem Ziel handelt es sich jedoch um eine künstliche Personalobergrenze, die nicht den tatsächlichen Bedarf der Truppe widerspiegelt. Der tatsächliche Personalbedarf für das aktuell gültige Fähigkeitsprofil der Bundeswehr wird auf 230 000 bis 240 000 aktive Soldaten geschätzt. Für die Realisierung der neuen NATO-Fähigkeitsziele geht das Verteidigungsministerium intern von einem Personalbedarf von 272.000 aktiven Soldaten aus. Bei einem Verteidigungsumfang von 460.000 Soldaten. Also nochmal rund 200.000 Reservisten on top.
Müssen nun auch noch die US-Truppen ersetzt werden, dürfte sich der Personalbedarf der Bundeswehr recht schnell auf rund 300.000 aktive Soldaten erhöhen. Darüber hinaus bedarf es eines Ersatzheeres mit weiteren 200.000 bis 300.000 Soldaten, „das im Ernstfall gefallene, verwundete oder in Gefangenschaft geratene Soldaten in den Divisionen an der Front und in der Etappe ersetzen kann”, so Franz-Stefan Gady. Bedeutet einen Verteidigungsumfang von rund 500.000 bis 600.000 Soldaten. Dass diese Größenordnungen nicht mittels Freiwilligkeit realisiert werden können, ist, denke ich, jedem klar. An einer wie auch immer gearteten Wehrpflicht werden wir also nicht vorbeikommen. Das Thema ist aktuell auch Streitpunkt in den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Während die Union auf einen schnellen Start der allgemeinen Wehrpflicht pocht, will die SPD das Modell „Neuer Wehrdienst” zunächst umsetzen.
Ich denke, am Ende wird man sich auf eine Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild verständigen. Da eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht zu lange dauern und zu viel kosten würde und darüber hinaus die Bundeswehr auch mehr belasten als nutzen würde. Auf der anderen Seite stehen einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr, auch allgemeine Dienstpflicht genannt, rechtliche Hürden im Wege.
Prioritätenliste
Erstens: Erhöhung der Einsatzfähigkeit der vorhandenen Streitkräfte. Hier geht es vor allem darum, ausreichend Munition und Ersatzteile zu beschaffen, um die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu erhöhen. Darüber hinaus sollte eine ernsthafte Strukturreform unternommen werden und bereits dieses Jahr eine Wehrpflicht nach schwedischem Vorbild eingeführt werden. Um Ineffizienzen in der Struktur zu beseitigen und dem Personalmangel entgegenzuwirken.
Zweitens: Führungs- und Kommandostrukturen. Die Bundeswehr benötigt nationale Kommandostrukturen, die die Führungsfähigkeit der eigenen Streitkräfte durchgehend sicherstellen können. Das neue Operative Führungskommando kann hier als Ausgangsbasis dienen. Darüber hinaus sollte ein Generalstab geschaffen werden und die Kommandos der einzelnen Teilstreitkräfte sollten von der ministeriell anmutenden Referatsstruktur hin zu einer militärischen Stabsstruktur reformiert werden. Des Weiteren sollte Deutschland eine Führungsrolle bei der Europäisierung der NATO-Kommandostrukturen bzw. dem Aufbau europäischer Kommandostrukturen übernehmen.
Drittens: Fähigkeitslücken im Bereich der Enabler schließen. Hier würden sich die Beschaffung weiterer A330-MRTT-Tankflugzeuge, PEGASUS-Aufklärungssysteme, Aufklärungssatelliten, Kommunikationssatelliten, Flugabwehrsysteme, Eurofighter EK usw. anbieten. Darüber hinaus bedarf es auch der Beschaffung neuer Fähigkeiten wie AWACS-Flugzeugen und strategischer Transportflugzeuge. All diese strategischen Fähigkeiten sollten idealerweise in multinationalen Einheiten gemeinsam beschafft und betrieben werden. Nach dem Vorbild der Multinational MRTT Unit.
Viertens: Masse aufbauen. Hier geht es darum, die neuen NATO-Fähigkeitsziele zu erfüllen und die US-Truppen zu ersetzen. Aktuell sieht es danach aus, dass Deutschland im Rahmen der neuen NATO-Fähigkeitsziele ein weiteres Korps inkl. Korpstruppen, zwei Divisionen inkl. Divisionstruppen, fünf bis sieben Kampfbrigaden und einen Hubschrauberverband stellen muss. Hinzu kommen Unterstützungskräfte in den Dimensionen Luft, See und Cyber. Für den Ersatz der US-Truppen ist laut Christian Mölling, Torben Schütz und Noah Heinemann u. a. die Aufstellung einer weiteren schweren Division erforderlich. Zusammengefasst bedeutet dies alleine für das Deutsche Heer einen Aufwuchs auf insgesamt zwei Korps inkl. Korpstruppen, sechs Divisionen inkl. Divisionstruppen und 18 Kampfbrigaden.
Fünftens: nukleare Abschreckung. Durch den Kurswechsel der USA verliert auch der nukleare Schutzschirm an Glaubwürdigkeit. Zeitgleich sind die Atomwaffenarsenale von Großbritannien und Frankreich zu schwach, um Russland glaubhaft abschrecken zu können, und lassen sich auch nicht so ohne weiteres auf die restlichen europäischen Staaten ausweiten. Wollen wir aber eine von Moskau unabhängige Politik verfolgen, werden wir an einer glaubhaften nuklearen Abschreckung nicht vorbeikommen. Folglich ist die Entwicklung von eigenen Kernwaffen wahrscheinlicher denn je und auch Thema in den Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD. Während die Union eine mögliche nukleare Bewaffnung der Bundeswehr in den Koalitionsvertrag aufnehmen will, ist die SPD dagegen. Technisch möglich wären eigene Atomwaffen für Deutschland definitiv. Und solch ein Programm wäre, verglichen mit den Beträgen, die für die konventionelle Verteidigung erforderlich sind, sogar recht günstig. Experten schätzen die Kosten auf 10 bis 15 Mrd. Euro. Allerdings wären die politischen Kosten enorm. Da das aber ein Thema für sich ist, werden wir in naher Zukunft noch ein ausführliches Video zur Frage “ob Deutschland eigene Atomwaffen benötigt” machen. Wenn ihr das nicht verpassen wollt, abonniert gerne unseren Kanal.
Fazit
Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ich denke, Deutschland hat gar keine Wahl. Deutschland ist der potenziell mächtigste militärische Staat auf dem europäischen Kontinent, so Franz-Stefan Gady. Ohne ein militärisch starkes Deutschland wird Europa nicht mehr lange in Frieden und Sicherheit leben. Deutschland ist das einzige Land, das über die notwendigen Ressourcen verfügt, um die bisherige Führungsrolle der USA in Europa zu übernehmen. Die anderen großen europäischen Nationen, Großbritannien, Frankreich und Italien, haben schlichtweg nicht mehr genügend haushalterischen Spielraum, um dies zu tun. Allerdings mache ich noch ein Fragezeichen hinter den erforderlichen politischen Willen. Während die Union die Zeichen der Zeit verstanden zu haben scheint und bereit ist, die notwendigen Schritte zu gehen, zögert und blockiert die SPD. Haushalterisch wurden die Voraussetzungen für eine Stärkung der deutschen Verteidigungsfähigkeiten schon mal geschaffen. Bleibt abzuwarten, ob dies auch in den anderen Bereichen gelingt.