Strategische Autonomie – kann sich Europa selbst verteidigen?

Strategische Autonomie - kann sich Europa selbst verteidigen?
Foto: Bundeswehr / Mario Bähr

Mit einem kombinierten Verteidigungshaushalt von 373,5 Milliarden US-Dollar und einer Truppenstärke von über 1,8 Millionen Soldaten stehen die europäischen NATO-Staaten auf dem Papier erstmal gut da. Die Realität sieht jedoch anders aus.

Warum muss sich Europa selbst verteidigen können?

Zunächst klären wir aber die Frage, warum sich Europa überhaupt selbst verteidigen muss. Schließlich bestand dahingehend in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ja kaum eine Notwendigkeit. Was hat sich also geändert? Nun, zum einen erleben wir mit dem Krieg in der Ukraine den größten Landkrieg seit dem Zweiten Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent. Spätestens seit 2022 ist Russland damit ohne Zweifel ein militärischer Aggressor, der die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum darstellt. Zum anderen ist die Schutzmacht Europas, die USA, zusehends weniger willens und in der Lage, diese Funktion auszufüllen. Dies hat mehrere Gründe. Erstens gibt es in der innenpolitischen Debatte der USA einen zunehmenden Drang nach außenpolitischer Zurückhaltung und weniger internationalem Engagement, und das nicht nur bei den MAGA-Republikanern. Zweitens fokussiert sich die US-Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend auf den Indopazifik und den Wettkampf um die Vormachtstellung in dieser Region zwischen den USA und China. Drittens reichen selbst die Fähigkeiten des U.S. Militärs nicht aus, um gleichzeitig einen Krieg in Europa und im Indopazifik führen zu können. Ein Beispiel, um dieses Problem zu veranschaulichen: Sollte Russland das Baltikum angreifen, könnte China die Gunst der Stunde nutzen und eine Blockade oder gar Invasion Taiwans versuchen. Die USA wären kaum in der Lage, an beiden Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Selbst wenn man die Frage nach dem politischen Willen außer Acht lässt, wird Europa im Falle des Falles nur mit begrenzter militärischer Unterstützung durch die USA rechnen können, allein aufgrund der knappen Kapazitäten. Europa muss also in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen. Da Russland die Hauptbedrohung darstellt, gilt es, die militärischen Fähigkeiten auf die Abschreckung und notfalls Abwehr dieser Bedrohung auszurichten.

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Kräfteverhältnis

Womit wir zum aktuellen Kräfteverhältnis zwischen den europäischen NATO-Staaten und Russland kommen. Die europäischen NATO-Staaten haben 2023 insgesamt 373,5 Milliarden US-Dollar für Verteidigung ausgegeben. Russland: 74,8 Milliarden US-Dollar. Allerdings muss man hier noch die Unterschiede in der Kaufkraft berücksichtigen. Da ich keine aktuelleren Zahlen gefunden habe, nehmen wir das Jahr 2020 als Beispiel. 2020 hat Russland 66,8 Milliarden US-Dollar für Verteidigung ausgegeben. Kaufkraftkorrigiert beträgt das russische Verteidigungsbudget im selben Jahr schon 196,5 Milliarden US-Dollar. Die tatsächliche Differenz zwischen den Verteidigungsetats der europäischen NATO-Staaten und Russland ist also kleiner, als es zunächst scheint.

Hinsichtlich der aktiven Truppenstärke verfügen die europäischen NATO-Staaten aktuell über rund 1,829 Millionen Soldaten. Russland verfügt über rund 1,3 Millionen Soldaten. Allerdings ist in den nächsten Jahren ein Aufwuchs auf 1,5 Millionen Soldaten geplant.

Womit wir zu den wichtigsten Materialkategorien kommen. An Kampfpanzern verfügen die europäischen NATO-Staaten über insgesamt 6.297 Einheiten, wovon 57 % allein auf Griechenland und die Türkei entfallen. Russland hingegen besitzt rund 2.000 Kampfpanzer. Im Bereich der Schützenpanzer sind die europäischen NATO-Staaten mit 9.000 Fahrzeugen im Vergleich zu Russland mit 4.000 Einheiten ebenfalls besser aufgestellt. Auch bei den Transportpanzern dominieren die europäischen NATO-Staaten mit 21.000 gegenüber Russlands 5.000 Fahrzeugen. Im Bereich der Artillerie verfügen die europäischen NATO-Staaten über 6.713 Einheiten, während Russland 3.329 Artilleriesysteme in seinem Bestand hat. Ein umgekehrtes Bild zeigt sich bei der Flugabwehr: Hier hat Russland mit 2.513 Einheiten eine deutlich größere Kapazität als die europäischen NATO-Staaten mit 1.215 Einheiten. Besonders im Bereich der weitreichenden, bodengebundenen Luftverteidigungssysteme ist Europa Russland deutlich unterlegen. Bei den Hubschraubern liegen die europäischen NATO-Staaten mit 3.181 gegenüber 757 russischen Einheiten klar vorne. Auch bei den Kampfflugzeugen zeigt sich ebenfalls ein Vorteil für die europäischen NATO-Staaten, die über 2.055 Maschinen verfügen, während Russland 1.115 Kampfflugzeuge hat. In der Dimension See besitzen die europäischen NATO-Staaten 140 größere Überwasserkampfschiffe, Russland hingegen nur 33. Bei den U-Booten hat die NATO mit 73 gegenüber Russlands 50 U-Booten ebenfalls einen Vorsprung.

Die gerade aufgeführten Zahlen mögen beeindruckend erscheinen, doch verbergen sie erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten. Erstens besteht ein dramatisches Ungleichgewicht bei der Ausstattung der verschiedenen Staaten. Beispielsweise besitzen 12 europäische Staaten keine Kampfpanzer und 14 verfügen über keine Kampfflugzeuge, wodurch sie nicht in der Lage sind, zu zentralen Missionen beizutragen. Darüber hinaus verwenden die europäischen NATO-Staaten unterschiedliche Systeme, von denen viele veraltet oder fast obsolet sind, einschließlich sowjetischer Altbestände und anderer überholter Systeme wie dem Tornado-Kampfflugzeug. Massive Einsparungen bei Wartungs- und Modernisierungsprogrammen verschärfen die Situation zusätzlich. Im Vergleich zu den Beständen Russlands und der USA mag die absolute Zahl der europäischen Großgeräte nicht allzu schlecht abschneiden, doch nur vergleichsweise wenige Systeme sind modern genug oder weisen den erforderlichen Bereitschaftsgrad auf. Vergleiche zwischen Russland und den europäischen NATO-Staaten, die die Anzahl an Panzern, Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen betrachten, erzählen also nur einen Teil der Geschichte.

Fähigkeitslücken

Die USA spielen derzeit eine zentrale Rolle in Europas Sicherheitsstruktur – nicht nur wegen ihrer Truppenstärke, sondern vor allem als Integrator der nationalen Streitkräfte. Sie verfügen über die notwendigen Strukturen, Kommandozentren und Führungssysteme, um die NATO-Operationen im Ernstfall effizient zu koordinieren. Unterstützt wird dies durch sogenannte Enabler, auf Deutsch Unterstützer, die Kampf, Führung und Einsatz überhaupt erst ermöglichen. Deutschland strebt an, diese Rolle langfristig zu übernehmen, doch das wird noch viele Jahre dauern. Andere Länder wie Frankreich, Polen oder Großbritannien sind ebenfalls nicht in der Lage, diese Funktion zu erfüllen. Kein europäisches Land kann derzeit ohne US-Unterstützung einen Großverband wie ein Korps mit bis zu 50.000 Soldaten oder gar eine Armee führen. Die früheren Armeehauptquartiere der NATO aus der Zeit des Kalten Krieges existieren nicht mehr, und obwohl auf Korpsebene Strukturen vorhanden sind, fehlt es den europäischen Staaten an praktischer Erfahrung. Manöver auf Korpsebene beschränken sich meist auf Computersimulationen, während den multinationalen Korps der NATO wichtige Enabler fehlen. Im Bereich der Enabler weisen die europäischen NATO-Staaten die größten Fähigkeitslücken auf. Diese sind im Detail:

  • Kommandosysteme
  • Flugzeuge und Waffensysteme zur Unterdrückung und Bekämpfung feindlicher Flugabwehr
  • weitreichende Präzisionswaffen
  • Landzielbekämpfung von See
  • U-Boot-Jagd und Seefernaufklärer
  • weitreichende Flug- und Raketenabwehrsysteme
  • Systeme zur Aufklärung, Überwachung und Zielerfassung, hier insbesondere Aufklärungsdrohnen und Aufklärungssatelliten
  • AWACS-Flugzeuge
  • Strategische Transportflugzeuge
  • Tankflugzeuge
  • Elektronische Kriegsführung
  • Cyberkriegsführung
  • und zu guter Letzt Pioniertruppen, wie zum Beispiel Minenräumpanzer

Der Erwerb dieser Fähigkeiten würde die europäischen NATO-Staaten in die Lage versetzen, nahezu das gesamte Spektrum an Aufgaben mit begrenzter oder ohne Unterstützung der USA zu bewältigen.

Fazit

Europa muss in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen – in meinen Augen eigentlich eine Selbstverständlichkeit und der Fakt, dass wir diese Fähigkeit so lange verloren haben, ein Skandal. Die Ausgangsbasis hinsichtlich der finanziellen, personellen und materiellen Ressourcen ist im Vergleich mit Russland auch nicht aussichtslos. Damit Europa tatsächlich in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen, müssen zwei Dinge getan werden. Zum einen gilt es, die vorhandenen Streitkräfte, insbesondere das Material, zu modernisieren und die Einsatzbereitschaft zu erhöhen. Zum anderen müssen die gerade genannten Fähigkeitslücken im Bereich der Enabler schnellstmöglich geschlossen werden. Hier könnte Deutschland eine Führungsrolle übernehmen. Aber klar ist auch, dass das Ganze nicht von heute auf morgen geht und auch nicht zum Nulltarif zu haben ist. Experten schätzten, dass es Europa mehr als ein Jahrzehnt und einen hohen dreistelligen Milliardenbetrag kosten würde, von den USA vollständig unabhängig zu werden. Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Kurz- bis mittelfristig ist Europa nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen – zu lange war der Kontinent in seinem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf.

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