Minimum Capability Requirements – was bedeuten sie für die Bundeswehr? 

Minimum Capability Requirements - was bedeuten sie für die Bundeswehr? 
Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

Im Frühjahr dieses Jahres hat die NATO ihren Mitgliedern die neuen „Minimum Capability Requirements“ übermittelt. Festgelegt wurden diese vom US-General Christopher Cavoli und dem französischen Admiral Pierre Vandier, den zwei höchsten militärischen Befehlshabern des Verteidigungsbündnisses.  Die „Minimum Capability Requirements“, kurz MCR, bauen auf den regionalen Verteidigungsplänen der NATO auf und leiten daraus ab, welche militärischen Fähigkeiten für die Abschreckung und Verteidigung notwendig sind. MCR sind also rein militärisch und ausdrücklich noch nicht von der Politik beschlossene Sache. Im Rahmen dieser Planungen wurden sechs Bereiche identifiziert, wo der Handlungsbedarf am größten ist: erstens Flugabwehr kurzer Reichweite, zweitens weitreichende Präzisionswaffen, drittens Truppenstärke, viertens Munition, fünftens Logistik und sechstens sichere digitale Kommunikation auf dem Gefechtsfeld. Die NATO-Staaten müssen also wesentlich mehr Truppen und Material stellen. Konkret erachtet die Allianz Folgendes für notwendig: 15 Warfighting Corps, ein Plus von neun im Vergleich zum Jahr 2021, 38 Divisionen, ein Plus von 14, 131 Kampfbrigaden, ein Plus von 49, 1.467 bodengebundene Flugabwehreinheiten, ein Plus von 1174 und 104 Hubschrauberverbände, ein Plus von 14. Hinzu kommen mehr Munition, weitreichende Präzisionswaffen sowie Logistikkapazitäten. Wie die Minimum Capability Requirements im Bereich der Luft- und Seestreitkräfte aussehen, ist bisher nicht bekannt. Man darf aber davon ausgehen, dass insbesondere bei den Seestreitkräften auch ein Aufwuchs erforderlich sein wird. Die Luftstreitkräfte der Allianz stehen hingegen vergleichsweise gut da, folglich kann man davon ausgehen, dass sich der Aufwuchs in dieser Dimension in Grenzen halten dürfte. Diese MCRs sollen nun bis zu einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Oktober 2025 als verbindliche Fähigkeitsziele auf die einzelnen Mitgliedsstaaten verteilt werden.

Bedeutung für die Bundeswehr

Womit wir zu den Auswirkungen auf die Bundeswehr kommen. Deutschland wurden zuletzt rund 9,28 Prozent aller Gesamtfähigkeiten zugewiesen, schreibt die Welt. Thomas Wiegold wiederum behauptete in der letzten Folge des Podcasts „Sicherheitshalber“, es seien 9,8 Prozent. General a. D. Erhard Bühler hat in einer Folge des Podcasts „Was tun, Herr General“ mal von 10 Prozent gesprochen. So ganz genau weiß man es also nicht, aber es werden rund 9 bis 10 Prozent der Gesamtfähigkeiten sein. Die Zuweisung ergibt sich im Übrigen aus der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Bevölkerungsgröße eines Staates. Die Welt berichtet, dass die Bundeswehr aufgrund der neuen Minimum Capability Requirements fünf bis sechs weitere Kampfbrigaden, ein zusätzliches Warfighting Corps und einen weiteren Hubschrauberverband stellen müsste. Reuters hat darüber hinaus berichtet, dass sich die Anzahl der Flugabwehrsysteme der Bundeswehr vervierfachen müsste. Der Rechenweg wird dabei jedoch in beiden Fällen nicht erläutert. Daher rechnen wir an dieser Stelle mal selber nach. Bis 2031 hat Deutschland der NATO bereits ein Korps inklusive Korpstruppen zugesagt. Nun sollen insgesamt neun weitere hinzukommen. Bei dem Faktor 9,28 bedeutet das, dass Deutschland ein weiteres Korps, insgesamt also zwei, stellen muss. Zwar soll sich die Gesamtzahl der Korps nur auf 15 belaufen, sprich Deutschland müsste, wenn man es genau nimmt, nur 1,5 Korps stellen. Da das aber nicht möglich ist und Deutschland zu den größeren Nationen in der NATO gehört, sieht es tatsächlich danach aus, dass das Heer künftig wieder über zwei Korps verfügen muss. Bei insgesamt 38 erforderlichen Divisionen kann man davon ausgehen, dass Deutschland insgesamt vier Divisionen stellen muss. Bedeutet eine weitere, und es gibt tatsächlich auch bereits Berichte, die diese Vermutung bestätigen. Von den 131 Kampfbrigaden wird die Bundeswehr mindestens zwölf, maximal 13 Stück stellen müssen. Aktuell verfügt das Heer über lediglich acht, es dürften also mindestens vier bis fünf Brigaden hinzukommen. Im Bereich der bodengebundenen Flugabwehr müsste die Bundeswehr insgesamt rund 140 Einheiten stellen. Wobei hier tatsächlich die Frage ist, was als bodengebundene Flugabwehreinheit verstanden wird. Wenn eine Patriot-Batterie also eine Einheit zählt, dann mal gute Nacht, Marine. Sollte aber bereits bspw. ein einzelner Skyranger 30 Flugabwehrpanzer als Einheit zählen, wäre das durchaus realistisch und notwendig. Zu guter Letzt ist noch bekannt, dass die NATO insgesamt 104 Hubschrauberverbände als notwendig erachtet, das bedeutet, die Bundeswehr müsste rund 10 Verbände stellen. Aktuell verfügt die Bundeswehr über insgesamt fünf, davon drei im Heer und jeweils einer bei der Luftwaffe und der Marine. Ergo müssten ca. fünf Verbände hinzukommen. Ich weiß, die Welt berichtet, dass lediglich ein weiterer Hubschrauberverband erforderlich ist, aber wie gesagt wurde der Rechenweg da nicht erläutert. Fassen wir die Zahlen einmal zusammen. Sollten die neuen Minimum Capability Requirements tatsächlich so kommen, wie gerade vorgetragen, müsste das Heer künftig aus zwei Korps, vier Divisionen und mindestens zwölf Kampfbrigaden bestehen. Hinzu kommen 140 bodengebundene Flugabwehreinheiten und bis zu 10 Hubschrauberverbände. Dabei sind bereits die jetzt vorhandenen Verbände finanziell, personell und materiell nicht ausreichend hinterlegt. Sollten diese Anforderungen tatsächlich zu verbindlichen Fähigkeitszielen führen, würde die Bundeswehr deutlich mehr Haushaltsmittel, Personal und Material benötigen als bisher bekannt. Aktuell verfügt die Truppe über rund 180.000 aktive Soldaten. Bis 2031 sollen es 203.000 aktive Soldaten und 60.000 grundbeorderte Reservisten werden. Wobei die Erreichung dieses Ziels fraglich ist, da die Truppenstärke in letzter Zeit eher rückläufig ist. Aus durchgestochenen Dokumenten des Verteidigungsministeriums geht hervor, dass man intern mit einem Mehrbedarf von 75.000 aktiven Soldaten rechnet, um den neuen NATO-Anforderungen zu entsprechen. Sprich insgesamt rund 275.000 aktive Soldaten in Friedenszeiten. Als Verteidigungsumfang werden 460.000 Soldaten als erforderlich angesehen, das bestätigte jüngst auch Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr, in einem Interview mit dem cpm Defence Network. Bei einer aktiven Truppenstärke von 275.000 müssten also nochmal knapp 200.000 Reservisten hinzukommen. Was ein Plus von 140.000 im Vergleich zur aktuellen Zielgröße von 60.000 darstellt. Die Personalprobleme der Bundeswehr sind also alles andere als überschaubar.

Gleiches gilt für die fehlenden Haushaltsmittel. Das Sondervermögen der Bundeswehr ist inzwischen nahezu vollständig gebunden und bis Ende 2027 verausgabt. Der Investitionsbedarf der Truppe, um lediglich die Auswirkungen der drei Jahrzehnte Friedensdividende zu bereinigen, wird auf weitere 200 bis 300 Milliarden Euro geschätzt. Wohlgemerkt zusätzlich zu den zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das hört sich nach viel an und ist es definitiv auch. Allerdings relativiert sich die Summe, wenn man die Friedensdividende entgegenrechnet. Hätte Deutschland seit Ende des Kalten Krieges 2 % des BIP für Verteidigung ausgegeben, wären Mehrausgaben von 618 Mrd. notwendig gewesen. Nun muss man die Auswirkungen dieser Sparpolitik halt wieder schnell und für viel Geld bereinigen. Doch all das war vor den neuen Minimum Capability Requirements. Um diese zu erreichen, gehen die meisten Experten davon aus, dass die NATO-Staaten künftig drei statt zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in Verteidigung investieren müssten. Für Deutschland würde dies einen jährlichen Verteidigungsetat von über 120 Milliarden Euro bedeuten. Zum Vergleich: Aktuell beträgt der Verteidigungshaushalt 51,9 Milliarden Euro zuzüglich Mitteln aus dem Sondervermögen.

Fazit

Ob die neuen Minimum-Capability-Requirements in diesem Umfang tatsächlich auch zu neuen verpflichtenden Fähigkeitszielen werden, bleibt abzuwarten. Ich habe da zumindest erhebliche Zweifel. Und das habe ich nicht nur mit Blick auf Deutschland, sondern generell. Am Beispiel der USA wird dies, denke ich, besonders deutlich. Laut General a. D. Erhard Bühler müssen die USA rund 45 % der Gesamtfähigkeiten stellen. Nur bezogen auf die Anzahl der notwendigen Brigaden würde das bedeuten, dass die US-Streitkräfte insgesamt 59 Brigaden stellen müssten. Aktuell verfügt die U. S. Army über 37 Brigaden. Folglich müssten die USA 22 weitere Brigaden aufstellen. Das ist selbst für die einzig verbleibende Supermacht dieser Welt aktuell nicht darstellbar. Und ich habe auch noch nicht im Ansatz von Plänen in dieser Richtung gehört.

Aber sollten die neuen Minimum-Capability-Requirements verpflichtende Fähigkeitsziele werden, würde dies für alle Mitgliedsstaaten große Kraftanstrengungen bedeuten.

Der als notwendig befundene Verteidigungsumfang von 460.000 Soldaten wird Deutschland ohne eine Wehrpflicht oder Dienstpflicht niemals erreichen. Bereits die aktuell gültigen Personalziele sind kaum ohne einen solchen Zwangsdienst erreichbar. Ich gehe daher davon aus, dass wir in der nächsten Legislaturperiode die Einführung einer wie auch immer gearteten Wehrpflicht oder einer allgemeinen Dienstpflicht sehen werden. Jetzt vor den nächsten Bundestagswahlen wird sich keine Partei dafür lautstark einsetzen. Aber die militärische Notwendigkeit ist den meisten bewusst.

Auch finanziell wird sich nach der Wahl, denke ich, einiges tun. Der reguläre Verteidigungshaushalt wird auf mindestens zwei, vielleicht sogar drei Prozent des BIP steigen müssen. Auch wenn ich prinzipiell der Meinung bin, dass Verteidigung als Kernaufgabe des Staates aus dem regulären Bundeshaushalt finanziert werden muss, fehlt selbst mir die Phantasie, wo man die dafür notwendigen Summen einsparen kann. Ich denke, es bedarf eines Dreiklangs aus Priorisierungen im Haushalt, Maßnahmen zur Erhöhung der Steuereinnahmen und der Aufnahme neuer Schulden. Denn für sich genommen wird keine der gerade genannten Maßnahmen ausreichen, um die notwendigen Summen aufzubringen. Auch hier wird man, denke ich, erst nach der nächsten Bundestagswahl Fortschritte sehen können, da mit Verteidigungsthemen in Deutschland ja bekanntlich kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Mein Videobericht zur Thematik:

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