Während des NATO-Gipfels 2024 in Washington haben die USA und Deutschland vereinbart, dass ab 2026 US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden. Zunächst soll die Stationierung nur zeitweise erfolgen, zukünftig ist jedoch eine dauerhafte Stationierung geplant. Konkret geht es um zwei unterschiedliche Raketensysteme, die im Rahmen der bereits in Deutschland stationierten zweiten Multi-Domain-Task Force stationiert werden sollen. Ziel ist es, ein konventionelles Abschreckungspotenzial aufzubauen.
Multi-Domain Task Force (MDTF)
Die U.S. Army stellt aktuell weltweit fünf sogenannte Multi-Domain Task Forces, kurz MDTF, auf. Drei sollen im Indopazifik, eine im Nahen Osten und eine in Europa, genauer gesagt in Deutschland, stationiert werden. Die erste MDTF wurde 2017 aufgestellt und dem U. S. Info-Pacific Command unterstellt. Die zweite MDTF wurde 2021 aufgestellt und ist in Deutschland stationiert. Die Einsatzbereitschaft soll nächstes Jahr erreicht werden. Wobei das Long-Range Fires Battalion, welches wir uns gleich noch genauer angucken werden, erst ab 2026 einsatzbereit sein soll. Die Hauptaufgabe der MDTF ist es, gegnerische Anti-Access-/Area-Denial-Netzwerke zu bekämpfen, mit dem Ziel, die eigene Operationsfreiheit zu gewährleisten. Darüber hinaus dienen sie allerdings auch der Abschreckung und ergänzen die Luftverteidigung, indem sie feindliche Deep-Strike-Fähigkeiten ins Fadenkreuz nehmen und falls nötig zerstören können. Die zweite MDTF setzt sich aus insgesamt vier Bataillonen zusammen. Einem Multidomain Effects battalion, einem Indirect Fire Protection Capability battalion, einem Brigade Support Battalion und einem Long-Range Fires Battalion. Letzteres umfasst die bald in Deutschland stationierten Raketensysteme. Genauer gesagt besteht dieses Long-Range Fires Battalion aus einer sogenannten Mid-Range Capability Battery und einer Long-Range Hypersonic Weapon Battery. Beide schauen wir uns im Folgenden im Detail an.
Mid-Range Capability Battery
Die Mid-Range Capability Battery ist Teil des Long-Range Precision Fires Programms der U.S. Army und soll die Lücke zwischen der Precision Strike Missile und der in Entwicklung befindlichen Long-Range Hypersonic Weapon schließen. Diese Mid-Range Capability Battery besteht aus einem Raketensystem, das auch unter dem Namen Typhon bekannt ist. Aktuell verfügt die U.S. Army bereits über zwei dieser Systeme. Ursprünglich war geplant, insgesamt vier dieser Systeme zu beschaffen. Die geplante Stückzahl dürfte sich mittlerweile jedoch auf sechs erhöht haben, da jede MDTF über ein Typhon-System verfügen soll und die erste MDTF sogar über zwei. So ein Typhon-System besteht aus einem Battery Operations Center und vier MK 70 Mod 1 Raketenwerfern. Dabei handelt es sich um einen von Lockheed Martin entwickelten 40-Fuß-Container, der mit vier VLS-Zellen des auf Schiffen eingesetzten MK 41 Vertical Launch System ausgestattet ist. Insgesamt verfügt solch ein System also über 16 abschussbereite Raketen. Das Typhon-System ist in der Lage, SM-6-Raketen und Tomahawk-Marschflugkörper zu verschießen.
Bei der SM-6 handelt es sich um eine weitreichende Flugabwehrrakete, die in der Lage ist, Flugzeuge, Marschflugkörper und ballistische Raketen in ihrem Endanflug zu bekämpfen. Die neuste Version soll sogar in der Lage sein, Hyperschallflugkörper abzuwehren. Sekundär kann die SM-6 auch gegen See- und Landziele eingesetzt werden, wobei die Wirkung aufgrund des verhältnismäßig kleinen Gefechtskopfes begrenzt ist. Die SM-6 hat offiziell eine Reichweite von mindestens 370 Kilometern, wobei sie sehr wahrscheinlich über 500 km betragen dürfte. Angesichts dessen, dass das Typhon-System die Lücke zwischen der Precision Strike Missile und der Long-Range Hypersonic Weapon schließen soll. Die Precision Strike Missile hat nämlich bereits eine Reichweite von bis zu 499 Kilometern.
Das zweite Wirkmittel, welches vom Typhon-System eingesetzt werden kann, ist der Tomahawk-Marschflugkörper. Dieser ist darauf ausgelegt, hochwertige und/oder stark verteidigte Landziele zu bekämpfen. Er fliegt zwar nur mit Unterschallgeschwindigkeit, dafür aber extrem tief. Das erschwert dem Gegner die Aufklärung und Bekämpfung. Die Reichweite beträgt über 1.600 Kilometer. Die neueste Version, der Tomahawk Block V, soll sogar in der Lage sein, bewegliche Ziele zu treffen. Der Gefechtskopf ist 450 kg schwer und konventionell, sprich nicht atomar. Es gab auch mal Versionen mit nuklearem Gefechtskopf, diese sind allerdings seit 2011 außer Dienst gestellt. Die landgestützte Version mit nuklearem Gefechtskopf sogar bereits seit 1991 aufgrund des mittlerweile leider obsoleten INF-Vertrages.
Long-Range Hypersonic Weapon Battery
Die Long-Range Hypersonic Weapon Battery wird mit der gleichnamigen Long-Range Hypersonic Weapon, auch als Dark Eagle bezeichnet, ausgestattet. Dabei handelt es sich um eine noch in Entwicklung befindliche Hyperschallwaffe, die, sobald sie einsatzbereit ist, sowohl von der U.S. Army als auch von der Navy genutzt werden soll. Die Dark Eagle ist zur Bekämpfung von A2/AD-Netzwerken, abstandsfähigen Präzisionswaffen und anderen hochwertigen und zeitkritischen Zielen gedacht. Die Reichweite beträgt mehr als 2.776 Kilometer und die Geschwindigkeit mindestens Mach 5. Der Preis einer dieser Hyperschallwaffen wird auf rund 40 Millionen US-Dollar geschätzt. Eine Long-Range Hypersonic Weapon Battery besteht aus vier Raketenwerfern mit je zwei Hyperschallflugkörpern, einem Battery Operations Center und einem Unterstützungsfahrzeug.
Risiken für Deutschland
Gegner der Stationierungspläne befürchten, dass Deutschland durch die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen zur Zielscheibe Russlands wird. Dabei wird jedoch eine Sache vergessen. Als logistische Drehscheibe der NATO ist Deutschland bereits jetzt ein prioritäres Ziel für Russland. Zusätzliche US-Raketen dürften die Situation kaum verschärfen.
Eine weitere Sorge ist ein mögliches neues Wettrüsten, da Russland sich gezwungen sehen könnte, mehr Kurz- und Mittelstreckenwaffen zu produzieren und in Europa zu stationieren. Allerdings sind Russlands Kapazitäten dazu aufgrund der aktuell laufenden Hochrüstung für den Krieg in der Ukraine und den Auswirkungen der Sanktionen begrenzt.
Des Weiteren gibt es die Befürchtung, dass Deutschland „singularisiert“ werde, da nur hierzulande US-Mittelstreckenwaffen stationiert werden sollen. Im Rahmen der Nachrüstung der 1980er Jahre bestand Bonn damals darauf, dass die Stationierung in mehreren NATO-Staaten erfolgen müsse. Die Sorge entsprang dem Umstand, dass Westdeutschland damals besonders verwundbar war. So hätte die Sowjetunion zum Beispiel eine neue Berlinkrise provozieren können. Diese Sonderlage existiert jedoch seit 1990 nicht mehr.
Eine weitere Befürchtung ist, dass insbesondere die Stationierung der Long-Range Hypersonic Weapon die Krisenstabilität verringern könnte, da Russland aus Angst vor einem Überraschungsangriff der NATO frühzeitig eskalieren könnte. Die LRHW kann das russische Kernland in wenigen Minuten erreichen, und aufgrund ihrer Manövrierfähigkeit wäre unklar, ob sie gegen das nukleare Vergeltungspotenzial Russlands gerichtet ist oder gegen konventionelle Ziele. Dies könnte Russland dazu verleiten, sein Atomarsenal frühzeitig einzusetzen. Diese Sorgen sind jedoch übertrieben, da die Anzahl der in Deutschland stationierten US-Systeme zu gering ist, um solch umfangreiche Zerstörungen zu verursachen. Wir erinnern uns, dass lediglich acht dieser Hyperschallraketen abschussbereit in Deutschland stationiert sein werden. Danach muss die Long-Range Hypersonic Weapon Battery erstmal das weite Suche, um nicht selber bekämpft zu werden, und natürlich nachladen, bevor erneut gefeuert werden kann.
Die wahrscheinlichste Reaktion Moskaus auf die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen wäre eine verstärkte Propaganda- und Desinformationskampagne, um die Stationierung 2026 zu verhindern und Zweifel an der NATO zu säen. Russische Nachrichtendienste haben in letzter Zeit verstärkt Einflussoperationen durchgeführt. Während nicht jede Kritik an der Stationierung russische Propaganda ist, verbreitet Moskau das falsche Narrativ, dass die NATO die Konfrontation mit Russland für ihren Selbsterhalt schüre und die Sicherheit der Europäer gefährde.
Das Risiko für Deutschland durch die Stationierung ist also moderat. Ein größeres Risiko besteht jedoch darin, nichts zu tun. Putin könnte dies als Zeichen der Schwäche der NATO interpretieren. Berlin sollte der Kreml-Propaganda entgegenhalten, dass die Stationierung eine Reaktion auf russische Eskalationen und kein Selbstzweck ist. Ein Vorschlag zur Rüstungskontrolle könnte dies zusätzlich verdeutlichen.
Potentiale für Rüstungskontrolle
Selbst Abrüstungsbefürworter können Vorteile in der Stationierung von Mittelstreckenwaffen finden, da der Besitz solcher Waffen notwendig ist, um sie in Verhandlungen wieder abrüsten zu können. Russland besitzt diese Waffen, während die NATO keine vergleichbaren Systeme hat, was die Verhandlungsposition schwächt. Der Kreml behauptet, die NATO stationiert diese Waffen nur zur Selbsterhaltung, was die Allianz widerlegen könnte, indem sie anbietet, auf die Stationierung zu verzichten, wenn Russland ebenfalls auf solche Systeme in Europa verzichtet oder deren Anzahl beiderseits reduziert wird. Dies würde einem INF-Vertrag „Light“ ähneln und es gäbe bis 2026 genug Zeit zur Einigung, bevor die Stationierung erfolgt.
Ziel solcher Rüstungskontrollideen wäre es, das derzeitige Ungleichgewicht zugunsten Russlands bei landgestützten Mittelstreckenwaffen in Europa zu mildern oder zu beseitigen. Russland verfügt über zahlreiche Mittelstreckenraketen, darunter SSC-8, Zolfaghar, KN-23, Zirkon und SS-26, mit insgesamt weit über 500 bodengestützten Mittelstreckenwaffen. Die NATO hingegen verfügt aktuell über keine vergleichbaren Waffensysteme in Europa.
Fazit
Die Entscheidung, US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren, ist in meinen Augen richtig, und das aus zwei Gründen: Zum einen werden diese Waffensysteme das derzeitige Ungleichgewicht zugunsten Russlands bei landgestützten Mittelstreckenwaffen in Europa mildern. Zum Anderen stellt die Stationierung eine längst überfällige Ergänzung zur Raketenabwehr dar. Europa ist zu groß, als dass man das gesamte Gebiet vor russischen Raketen schützen könnte, und darüber hinaus besteht immer die Gefahr einer Übersättigung der eigenen Luftverteidigungssysteme durch einen Massenangriff feindlicher Flugkörper. Sich alleine auf die Luftverteidigung zu verlassen, wäre also höchst riskant und naiv. Die NATO muss daher in der Lage sein, die russischen Deep-Strike-Fähigkeiten präventiv auszuschalten, um einen russischen Angriff mit weitreichenden Präzisionswaffen zumindest abzumildern, am besten ganz zu verhindern. Hierbei sollten sich die Europäer jedoch nicht nur auf die USA verlassen, sondern schnellstmöglich die eigenen Fähigkeitslücken in diesem Bereich schließen. Einige europäische NATO-Staaten, darunter auch Deutschland, unternehmen mit dem Vorhaben „European Long-Range Strike Approach“ bereits Schritte in diese Richtung. Die Entwicklung und Beschaffung von weitreichenden Präzisionswaffen sollte für Deutschland und andere europäische NATO-Staaten in den nächsten fünf bis zehn Jahren definitiv ganz weit oben auf der Prioritätenliste stehen.