Typhon – das zukünftige Raketensystem der Bundeswehr

Typhon - das zukünftige Raketensystem der Bundeswehr
Typhon-Raketensystem | Foto: DVIDS

Die Bundeswehr soll künftig Deep Precision Strike Fähigkeiten erhalten, also die Möglichkeit, gegnerische Ziele weit hinter der Frontlinie gezielt auszuschalten. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, der Aufrüstung Russlands und der erkennbaren Lücken im europäischen Langstreckenarsenal rückt nun das US-amerikanische Typhon-Raketensystem in den Fokus. Es könnte nicht nur die deutsche Abschreckungsfähigkeit deutlich erweitern, sondern auch eine entscheidende Brückenlösung bieten, bis eigene europäische Systeme verfügbar sind.

Die geplante Beschaffung

Typhon-Raketensystem | Foto: DVIDS

Am 14. Juli 2025 kündigte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bei einem Besuch in Washington an, dass Deutschland offiziell einen sogenannten Letter of Request für den Erwerb des US-amerikanischen Typhon-Raketensystems über das Foreign-Military-Sales-Verfahren eingereicht hat. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth begrüßte den Antrag, der nun in Washington geprüft wird. Erst wenn Berlin ein formelles Letter of Offer and Acceptanceerhält, wird die Bundesregierung endgültig über die Beschaffung entscheiden – und auch der Bundestag müsste noch zustimmen.

Pistorius betonte, das System solle ausschließlich der Abschreckung dienen. Zwar ermögliche die Reichweite von bis zu 2.000 Kilometern theoretisch auch Angriffe auf russisches Territorium, die geplante Nutzung sei jedoch rein defensiv. Hintergrund ist, dass Europa derzeit nur über sehr wenige bodengestützte Mittelstreckenwaffen mit Reichweiten von mehr als 300 Kilometern verfügt. Die Bundeswehr setzt bislang vor allem auf luftgestützte Marschflugkörper vom Typ Taurus, von denen etwa 600 vorhanden sind.

Angesichts des Ausbaus russischer Raketen- und Artilleriesysteme warnen US-Militärs, die NATO benötige dringend zusätzliche weitreichende Fähigkeiten. Pistorius argumentiert, dass das Typhon-System die deutsche und europäische Abschreckungsfähigkeit „signifikant vergrößern“ und zugleich die Verteidigungsfähigkeit der Bündnispartner stärken würde.

Parallel dazu arbeitet das European Long-range Strike Approach (ELSA) – ein deutsch-französisch-italienisch-polnisches Projekt, dem sich später auch Schweden, das Vereinigte Königreich und die Niederlande angeschlossen haben – an einer eigenen „Deep-Precision-Strike“-Fähigkeit mit Reichweiten von über 2.000 Kilometern. Diese europäischen Systeme werden laut Pistorius jedoch erst in sieben bis zehn Jahren einsatzbereit sein. Das Typhon-System soll deshalb als Brückenlösung dienen, um die Fähigkeitslücke bis dahin zu schließen.

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Wie viele Batterien beschafft werden sollen, ist noch offen. Deutschland wäre der erste ausländische Kunde; eine Auslieferung wäre laut Hersteller Lockheed Martin innerhalb eines Jahres nach Bestellung möglich, realistischerweise aber wohl erst nach 2026 – also nach der geplanten Stationierung der US-Systeme in Deutschland. Auch andere NATO-Partner könnten sich später für den Kauf entscheiden. Strategisch würde die Anschaffung die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckung in Europa weiter stärken.

Das Typhon-System

Typhon-Raketensystem | Foto: DVIDS

Das Typhon-Raketensystem wurde seit 2020 entwickelt, ein Jahr nachdem die USA aus dem INF-Vertrag ausgestiegen waren. Ziel des Programms – offiziell als Mid-Range Capability (MRC) bzw. Strategic Mid-Range Fires bezeichnet – ist es, die Fähigkeitslücke zwischen der taktischen Precision Strike Missile (PrSM) und der künftigen hypersonischen Langstreckenwaffe LRHW („Dark Eagle“) zu schließen und gleichzeitig auf weitreichende russische und chinesische Systeme zu reagieren. Lockheed Martin konnte dafür bewährte Marine-Technik an Land adaptieren: das Mk-41 Vertical Launching System und Elemente des Aegis-Gefechtsführungssystems. Laut Hersteller gelang die Entwicklung „von einem leeren Blatt Papier“ bis zur Einsatzreife in etwas mehr als zwei Jahren; bereits im Dezember 2022 übergab man die erste Typhon-Batterie an das Rapid Capabilities and Critical Technology Office der US-Armee.

Nach der Übergabe begann auf der Joint Base Lewis-McChord die Ausbildung; Ende 2023 meldete die 1st Multi-Domain Task Force (MDTF) die vorläufige Einsatzbereitschaft. Am 11. April 2024 folgte der erste Einsatz im Ausland: Eine komplette Batterie – vier Startfahrzeuge plus Führungs- und Unterstützungsfahrzeuge – wurde per C-17 in die philippinische Provinz Luzon verlegt und blieb dort stationiert, was in Washington wie auch in Peking politische Debatten auslöste. Dieses Jahr wurde Typhon bei der Übung „Talisman Sabre“ in Australien erprobt, einschließlich eines scharfen SM-6-Abschusses gegen ein Schiffsziel. Von den insgesamt fünf für die US Army geplanten Batterien sind drei bereits ausgeliefert; die vierte wird aktuell produziert, und die fünfte soll im September unter Vertrag genommen werden. Eine Stationierung in Europa ist für das Jahr 2026 vorgesehen – zunächst in Wiesbaden, wo die 2nd Multi-Domain Task Force angesiedelt ist.

Typhon-Raketensystem bei der Übung „Talisman Sabre“ in Australien | Foto: DVIDS

Eine Typhon-Batterie ist konsequent auf Mobilität und rasche Verlegung ausgelegt. Sie umfasst vier Launcher, ein Batterie-Operationszentrum (BOC) sowie Versorgungs- und Ladefahrzeuge. Alle Komponenten werden von HEMTT-Schwerlastzugmaschinen gezogen und sind straßen- sowie lufttransportfähig, einschließlich C-17-Verlegung. Jeder Launcher entspricht einem standardisierten 40-Fuß-Container auf Anhänger mit vier Mk-41-Startzellen. Damit verfügt die Batterie über insgesamt 16 Zellen und kann bis zu 16 Lenkflugkörper gleichzeitig aufnehmen. Das BOC nutzt eine landgestützte Aegis-Variante und das Tactical Tomahawk Weapon Control System zur Führung und Zielzuweisung. Dieser Ansatz macht die Einheit mobil, schwer aufklärbar und schnell einsatzbereit.

Als Wirkmittel kann Typhon zwei bewährte Lenkflugkörpersysteme einsetzen. Der Tomahawk (BGM-109, aktuell Block V) ist ein turbofan-getriebener Marschflugkörper von rund 5,6 Metern Länge und etwa 1,6–1,7 Tonnen Startmasse. Er kombiniert GPS und Trägheitsnavigation mit Terrainvergleich (TERCOM/DSMAC), fliegt extrem tief und ist damit schwer detektierbar und erreicht – je nach Version – etwa 1.600–1.850 Kilometer (Block IV) bis über 2.000 Kilometer Reichweite, teils bis rund 2.500 Kilometer (Block V). Typische Ziele sind hochwertige Bodenziele wie Radarstellungen, Führungsbunker, Flugplätze und Kommandozentren; mit dem Tomahawk Maritime Strike existiert zudem eine Anti-Schiff-Variante. Der Gefechtskopf wiegt rund 450 Kilogramm (HE/Penetrator), und die Treffgenauigkeit liegt bei etwa 5–10 Metern CEP. Der Stückpreis bewegt sich – abhängig von der Version – grob zwischen 1,5 und 2,2 Millionen US-Dollar; Nutzer sind u. a. die USA und das Vereinigte Königreich. Australien und Japan haben sich ebenfalls für eine Beschaffung des Marschflugkörpers entschieden.

Die zweite Option ist die SM-6 (RIM-174 ERAM), ein rund 6,6 Meter langer, etwa 1.500 Kilogramm schwerer Feststoff-Mehrzweckflugkörper mit Stufenantrieb. Gekoppelte Trägheitsnavigation und aktiver Radarsuchkopf ermöglichen Abwehr von Luftzielen, begrenzte Raketenabwehr in der Endphase, Seeziel- und – in neueren Varianten – Bodenzielbekämpfung. Die Geschwindigkeit liegt bei über Mach 3; die offiziell genannten Reichweiten bewegen sich bei etwa 240–370 Kilometern gegen Luftziele und bis 460+ Kilometern gegen Schiffe/Bodenziele (inoffiziell rund 500 Kilometer). Der Sprengkopf (ca. 64–115 Kilogramm, Splitterwirkung) ist auf die Zerstörung von Flugzeugen, Raketen und kleineren Überwassereinheiten ausgelegt. Die SM-6 wurde 2013 bei der US Navy eingeführt, erzielte seitdem zahlreiche Testerfolge, startete 2023 erstmals von einem landgestützten Typhon-Werfer und versenkte 2025 bei „Talisman Sabre“ ein Zielschiff. Der Stückpreis wird auf etwa 4–5 Millionen US-Dollar geschätzt; Nutzer bzw. geplante Nutzer sind neben den USA u. a. Japan und Australien.

In Summe verbindet Typhon bewährte Marinetechnik mit landgestützter Mobilität und zwei komplementären Flugkörpern: Tomahawk für tiefe, präzise Schläge über sehr große Distanzen und SM-6 für schnelle, vielseitige Wirkungen gegen See- und Bodenziele. Genau diese Mischung macht das System zu einer flexibel verlegbaren Deep-Precision-Strike-Fähigkeit, die bestehende Lücken schließt und sich – wegen Container-Launchern, kurzer Reaktionszeit und hoher Überlebensfähigkeit – gut in moderne, verteilte Operationskonzepte einfügt.

Fazit

Trotz wiederholter Beteuerungen deutscher Regierungsvertreter zur Bedeutung weitreichender Präzisionswaffen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs – sind die tatsächlichen Beschaffungen bislang überschaubar geblieben. Neben den rund 600 vorhandenen Taurus-Marschflugkörpern hat Deutschland in den vergangenen Jahren nur begrenzt neue Systeme geordert: 2023 wurden 75 AGM-158B JASSM-ER (Reichweite ca. 1.000 km) im Paket mit den F-35A bestellt, 2025 folgte eine Order für Joint Strike Missiles im Wert von etwa 645 Millionen US-Dollar, was bei Stückkosten von rund 3 bis 3,5 Millionen US-Dollar auf 180 bis 215 Exemplare hindeutet. Im internationalen Vergleich sind diese Mengen eher „homöopathisch“ – zumal im Bereich der sogenannten Deep-Strike-Fähigkeiten mit Reichweiten deutlich über 1.000 Kilometern bislang keinerlei Systeme beschafft wurden.

Gerade deshalb wäre für Deutschland das Typhon-Raketensystem zum Start von Tomahawk-Marschflugkörpern interessant. Mit Reichweiten von über 2.000 Kilometern, hoher Präzision und der Möglichkeit, auch stark geschützte Ziele zu bekämpfen, könnte der Tomahawk einen zentralen Beitrag zur strategischen Abschreckung leisten – vorausgesetzt, er wäre schnell und in ausreichender Stückzahl verfügbar. Doch genau hier liegt das Problem: Die US-Produktion ist begrenzt, die Mindestfertigungsrate liegt bei etwa 90 Flugkörpern pro Jahr, und die Wartezeit für Neubestellungen wird in offiziellen Unterlagen mit 2,5 bis 3 Jahren angegeben. Deutschland müsste sich dabei mit bestehenden US- und Auslandskunden die Produktionskapazitäten teilen und würde realistischerweise zunächst am Ende der Warteliste stehen. Selbst eine vergleichsweise kleine Bestellung im niedrigen dreistelligen Bereich könnte drei bis fünf Jahre dauern – bei einem realen Bedarf, der in gut informierten Kreisen eher im hohen dreistelligen bis vierstelligen Bereich gesehen wird.

Das verdeutlicht, dass ein Kauf aus den USA keine schnelle Lösung darstellt. Zwar existiert dort eine leistungsfähige Rüstungsindustrie, doch der Zugang zu Produktionskapazitäten ist stark eingeschränkt. Wer die Fähigkeitslücke Europas im Bereich von Präzisionsschlägen in der Tiefe schließen will, kann sich nicht allein auf US-Lieferungen verlassen. Nötig ist vielmehr eine langfristig angelegte, kontinuierliche europäische Produktionsbasis, die moderne Kriegsführung mit tausenden einsatzbereiten weitreichenden Präzisionswaffen dauerhaft sicherstellt.

Auch wenn eine jetzt gestartete Großinitiative – mit oder ohne Typhon – keine sofortige Wirkung entfalten würde, bleibt der Handlungsbedarf akut. Wer das Ziel verfolgt, bis 2029 eine glaubwürdige Abschreckung gegenüber Russland zu erreichen, darf keine weitere Zeit verlieren. Selbst wenn das Zeitfenster enger wird oder sich bereits zu schließen droht, ist ein verspäteter Start immer noch besser, als nichts zu tun.

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