Erstes Weißbuch zur Verteidigung der EU

Erstes Weißbuch zur Verteidigung der EU
Foto: European Union

Das Joint White Paper for European Defence Readiness 2030 der Europäischen Kommission und des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik skizziert einen umfassenden Plan zur Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit bis zum Jahr 2030. Angesichts wachsender Bedrohungen – insbesondere durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, geopolitische Spannungen mit China und die allgemeine Erosion der internationalen Ordnung – müsse Europa seine Verteidigungsbereitschaft massiv erhöhen. Jahrzehntelange Unterinvestitionen hätten die Verteidigungsstrukturen geschwächt, weshalb nun eine gemeinsame und koordinierte Aufrüstung notwendig sei.

Das Dokument beschreibt ein sicherheitspolitisches Umfeld, das sich rapide verschlechtert. Russland betreibt eine auf Kriegsführung ausgerichtete Wirtschaft, erhöht seine Rüstungsausgaben drastisch und verfolgt aggressive geopolitische Ziele über die Ukraine hinaus. Auch China baut seine militärischen Fähigkeiten systematisch aus, insbesondere in den Bereichen Cyber, Raumfahrt und nukleare Kapazitäten, und verfolgt strategische Interessen, die mit denen der EU in Konflikt stehen. Neben diesen beiden Hauptakteuren stellen hybride Bedrohungen, Terrorismus, Migration, der Klimawandel und geopolitische Instabilität – etwa im Nahen Osten und in Afrika – zusätzliche Herausforderungen dar. Europa ist zudem in hohem Maße abhängig von kritischen Rohstoffen und Technologien, was seine strategische Verwundbarkeit erhöht.

Um dem zu begegnen, formuliert das White Paper den „ReArm Europe“-Plan, der mehrere zentrale Handlungsfelder umfasst. Ein Hauptziel ist der rasche Ausbau europäischer Verteidigungsfähigkeiten. Dabei werden sieben prioritäre Fähigkeitsbereiche benannt: Flug- und Raketenabwehr, moderne Artilleriesysteme, Munitionsreserven, Drohnen- und Drohnenabwehrsysteme, militärische Mobilität, elektronische und Cyberkriegsführung sowie der Schutz kritischer Infrastruktur. Die EU will diese Fähigkeitslücken nicht nur durch nationale Maßnahmen, sondern vor allem durch koordinierte, gemeinsame Beschaffungs- und Entwicklungsprojekte der Mitgliedstaaten schließen.

Ein weiteres zentrales Anliegen ist der Ausbau der europäischen Verteidigungsindustrie. Diese sei derzeit zu fragmentiert, unterfinanziert und häufig national orientiert. Ziel ist es, eine wettbewerbsfähige, resiliente und innovationsgetriebene Industrie aufzubauen, die sowohl große Unternehmen als auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) einbindet. Besonders betont wird die Förderung disruptiver Technologien wie Künstliche Intelligenz, Quantencomputing, Hyperschalltechnologien und autonome Systeme. Eine engere Verflechtung von zivilen und militärischen Forschungs- und Entwicklungsstrukturen soll dabei helfen, Europas technologische Souveränität zu sichern.

Zugleich wird die Ukraine als vorderster Verteidigungsposten Europas betrachtet. Die militärische Unterstützung für das Land soll deutlich ausgeweitet werden – durch Lieferung von Munition, Flugabwehrsystemen und Drohnen sowie durch Ausbildung, Instandsetzung und Kooperation mit der ukrainischen Rüstungsindustrie. Letztere soll schrittweise in den europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter integriert werden. Die sogenannte „Porcupine Strategy“ soll sicherstellen, dass die Ukraine sich langfristig selbst verteidigen kann.

Auch militärische Mobilität innerhalb der EU soll verbessert werden. Der reibungslose Transport von Truppen und Material über Grenzen hinweg wird derzeit noch durch bürokratische Hürden erschwert. Die EU plant deshalb den Ausbau von vier zentralen Mobilitätskorridoren und 500 Infrastrukturprojekten, darunter Straßen, Brücken, Häfen und Flughäfen, die auch zivil nutzbar sein sollen.

Zur Finanzierung der geplanten Maßnahmen sieht das White Paper eine Reihe von Instrumenten vor. Im Zentrum steht der neu vorgeschlagene „SAFE“-Fonds (Security and Action for Europe), der bis zu 150 Milliarden Euro an EU-unterstützten Darlehen bereitstellen soll. Hinzu kommt die koordinierte Aktivierung der nationalen Ausnahmeklausel im Stabilitäts- und Wachstumspakt, um höhere nationale Verteidigungsausgaben zu ermöglichen. Weitere Finanzierungsquellen sollen aus bestehenden EU-Fonds, der Europäischen Investitionsbank sowie aus privatem Kapital mobilisiert werden. Bis 2029 sollen so rund zusätzliche 800 Milliarden Euro in die europäische Verteidigungsfähigkeit investiert werden.

Darüber hinaus soll die europäische Verteidigungszusammenarbeit mit internationalen Partnern ausgebaut werden. NATO bleibt dabei der Eckpfeiler der kollektiven Verteidigung. Die EU will jedoch auch ihre Beziehungen zu Ländern wie den USA, dem Vereinigten Königreich, Norwegen, Kanada, der Ukraine und Indo-Pazifik-Partnern wie Japan und Südkorea vertiefen. Die Verteidigungsindustrie soll durch internationale Kooperationen breiter aufgestellt und von Abhängigkeiten entkoppelt werden.

In der Schlussfolgerung unterstreicht das White Paper, dass es jetzt mutige politische Entscheidungen brauche, um die Verteidigungsunion der EU voranzutreiben. Der Schutz der europäischen Werte, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sowie die Wahrung der Demokratie könnten nur durch eine starke und geeinte europäische Verteidigungsfähigkeit gewährleistet werden. Europa müsse auf diese historische Herausforderung mit Entschlossenheit und Tempo reagieren.

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Das Joint White Paper for European Defence Readiness 2030 zum nachlesen:

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