Die Europäische Union steht vor einer der größten sicherheitspolitischen Herausforderungen der letzten Jahrzehnte. Wiederholte Luftraumverletzungen durch russische Drohnen, mysteriöse Drohnensichtungen über kritischer Infrastruktur sowie neue Formen hybrider Kriegsführung haben Europa dazu gezwungen, seine Schutz- und Abwehrstrategien grundlegend zu überdenken. Als Reaktion darauf hat die EU die European Drone Defence Initiative ins Leben gerufen.
___STEADY_PAYWALL___
Entstehungsgeschichte
Die Entstehungsgeschichte dieser Initiative ist von alarmierenden Zwischenfällen geprägt. Am 10. September 2025 drangen rund 20 russische Drohnen in den polnischen Luftraum ein, woraufhin NATO-Jets einige davon abschossen. Kurz darauf kam es in Dänemark zu mehreren Vorfällen, bei denen unbekannte Drohnen den Betrieb ziviler und militärischer Flughäfen stundenlang lahmlegten. Auch in Estland und Rumänien wurden russische Luftfahrzeuge gesichtet. Diese Ereignisse machten schmerzhaft deutlich, dass Europa bislang über kein wirksames System zur Aufklärung und Abwehr von Drohnen verfügt.
Bereits zuvor hatten osteuropäische Staaten Alarm geschlagen. Estland, Lettland, Litauen, Finnland und Polen arbeiteten seit Anfang 2025 an einem Konzept für eine gemeinsame Anti-Drohnen-Verteidigung entlang ihrer Grenzen. Im März 2025 stellten Estland und Litauen sogar einen gemeinsamen Antrag auf EU-Finanzierung eines solchen Projekts, der jedoch zunächst von der EU-Kommission abgelehnt wurde. Was als regionale „Baltic Drone Wall“ begann, wurde schließlich beim EU-Gipfel in Kopenhagen zur gesamteuropäischen European Drone Defence Initiative ausgeweitet.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte Mitte September 2025 in ihrer Rede zur Lage der Union an, Europa brauche einen „Drohnenwall“ zum Schutz seiner Ostflanke. Am 26. September 2025 lud die EU erstmals zu einer Auftaktsitzung auf Ministerebene ein, an der die Verteidigungsminister mehrerer Mitgliedstaaten sowie Vertreter der EU-Kommission, der NATO und der Ukraine teilnahmen. Der neue EU-Verteidigungskommissar betonte im Anschluss, man habe beschlossen, „von Diskussionen zu konkreten Aktionen überzugehen“ – ein deutliches Signal dafür, dass die EU angesichts der russischen Hybridbedrohungen nun geschlossen und entschlossen reagieren will.
Zielsetzung
Die European Drone Defence Initiative verfolgt das vorrangige Ziel, eine koordinierte europäische Abwehr gegen unbemannte Luftfahrzeuge aufzubauen. Im Zentrum der Planungen steht ein System, das feindliche Drohnen schnell erkennen, verfolgen und – falls nötig – neutralisieren kann. EU-Kommissar Andrius Kubilius skizzierte das Konzept mit zwei zentralen Komponenten: Detektion und Intervention.
Zunächst soll ein effizientes Frühwarn- und Überwachungssystem entstehen, das jede Drohne, die in den EU-Luftraum eindringt, sofort aufspürt. Darauf aufbauend sollen Abwehrmaßnahmen greifen, um entdeckte Objekte unschädlich zu machen. Kurzfristig liegt der Schwerpunkt auf der Aufklärung – „Ein effektives Detektionssystem hat oberste Priorität“, betonte Kubilius. Mittel- bis langfristig soll jedoch auch die Entwicklung und Integration von Abwehrfähigkeiten vorangetrieben werden, um Drohnen nach ihrer Entdeckung effizient abfangen oder zerstören zu können.
Besonderen Wert legt die EU auf eine enge Abstimmung mit der NATO: Der sogenannte Drohnenwall soll mit NATO-Kommandostrukturen kompatibel sein und sich nahtlos in die Gesamtstrategie der Allianz einfügen. Die NATO nahm bereits als Beobachterin an den Beratungen teil und liefert der EU militärische Anforderungen sowie Erfahrungswerte aus dem Krieg in der Ukraine, um die europäischen Systeme interoperabel und einsatzfähig zu gestalten.
Langfristig verfolgt die EU mit der Initiative auch ein strategisches Ziel: die Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie und technologischen Souveränität. Das Projekt gilt als eines der ambitioniertesten multinationalen Rüstungsvorhaben in der Geschichte der Europäischen Union. Es soll in enger Zusammenarbeit mit der europäischen Hightech-Industrie umgesetzt werden und modernste Entwicklungen in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Sensorik und Abwehrtechnologie integrieren.
Nicht zuletzt ist die Initiative eine Reaktion auf die „neue Realität“ moderner Kriegsführung: Günstige Drohnen zwingen westliche Streitkräfte dazu, teure Abfangjäger und Lenkwaffen einzusetzen – ein dysfunktionales Kosten-Nutzen-Verhältnis, das die EU dringend verbessern will. Der Drohnenwall soll daher Europas Verteidigungsfähigkeit wirtschaftlicher und flächendeckender gestalten, um künftigen asymmetrischen Bedrohungen besser begegnen zu können.
Dabei geht es jedoch nicht – wie der Begriff bildhaft nahelegt – um eine durchgehende Linie aus Geschütztürmen oder Abfangdrohnen entlang der tausende Kilometer langen EU-Außengrenzen. Ziel ist vielmehr, Bevölkerung, kritische Infrastruktur sowie schützenswerte militärische und zivile Einrichtungen im Grenzraum und im Inland durch stationäre und hochmobile Systeme zu sichern. Der Kern des Projekts liegt in der intelligenten Vernetzung bestehender Abwehrsysteme der Mitgliedstaaten und in einer deutlichen Erhöhung der verfügbaren C-UAS-Kapazitäten. Die Drone Wall soll also nicht linear entlang von Ländergrenzen verlaufen, sondern gezielt dort zum Einsatz kommen, wo besonders schützenswerte Ziele verteidigt werden müssen.
Technische Umsetzung
Im Kern geht es bei der European Drone Defence Initiative darum, vorhandene Sensoren und Effektoren miteinander zu vernetzen sowie die Drohnenabwehrfähigkeiten auszubauen, um ein umfassendes Lagebild zu schaffen und schneller reagieren zu können.
Zunächst müssen potenziell feindliche Drohnen aufgeklärt werden. Zentral ist dafür ein engmaschiges Sensornetz aus Radaranlagen, akustischen Sensoren, optischen Kamerasystemen und Funkfrequenzdetektoren. Die größte Herausforderung bei der Detektion besteht in der Vielfalt der Drohnentypen. Ein Radiofrequenzdetektor etwa kann keine glasfasergesteuerte Drohne erfassen. Daher ist ein Multi-Sensor-Ansatz erforderlich, der verschiedene Technologien miteinander kombiniert.
Die verschiedenen Sensordaten müssen anschließend durch KI-gestützte Software zu einem umfassenden Lagebild fusioniert werden. Angesichts möglicher Schwarmangriffe mit Dutzenden Drohnen gleichzeitig sind automatisierte Systeme unverzichtbar.
Die dritte und letzte Komponente sind die Abwehrsysteme selbst. Hier setzt die EU auf einen Mix verschiedener Technologien für einen mehrschichtigen Abwehrschirm. Soft-Kill-Effektoren wie elektromagnetische Störsender unterbrechen Funksteuerung oder GPS-Navigation und zwingen Drohnen zur Landung. Beispiele sind Smart Jammeroder GNSS-Jammer. Ihr Vorteil: Drohnen können ohne kinetische Zerstörung neutralisiert werden – ein entscheidender Aspekt in dicht besiedelten Gebieten. Ergänzend sollen Hard-Kill-Effektoren wie Laserwaffen, Flugabwehrkanonen, Abfangdrohnen und kleine Drohnenabwehrraketen zum Einsatz kommen.
Darüber hinaus geht es bei der Drohnenabwehr nicht nur um die Bekämpfung von Symptomen, sondern zunehmend auch um die Ursachenbekämpfung. Durch die Fusion verschiedener Sensordaten kann die Position feindlicher Drohnen möglichst genau bestimmt werden – und damit die Quelle der Bedrohung direkt ausgeschaltet werden.
Zeitplan
EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius erklärte, der sogenannte Drohnenwall könne innerhalb eines Jahres aufgebaut werden. EU-Beamte gehen jedoch davon aus, dass der Aufbau eines umfassenden Sensornetzwerks zur verbesserten Luftraumüberwachung erst bis Ende 2026 abgeschlossen sein wird. Die Entwicklung eines vollständigen Abwehrsystems dürfte noch mehr Zeit in Anspruch nehmen. Kurzfristig sollen zunächst zusätzliche Sensoren installiert werden.
Die Roadmap der EU sieht vor, dass der Europäische Rat die European Drone Defence Initiative bis Ende 2025 als prioritäres Flaggschiffprojekt billigt. Im ersten Quartal 2026 soll die Initiative offiziell starten, begleitet von ersten Vorauszahlungen. Bis Ende 2026 ist der Aufbau einer initialen Einsatzfähigkeit geplant, und bis Ende 2027 soll die European Drone Defence Initiative vollständig einsatzfähig sein.
Finanzierung
Die Finanzierung des Drohnenwalls gilt als große Herausforderung, da es sich um ein Großprojekt mit erheblichem Ressourcenbedarf handelt. EU-Kommissar Andrius Kubilius betonte, man müsse einen „europäischen finanziellen Werkzeugkasten“ schnüren, um das Vorhaben Realität werden zu lassen.
Die EU plant, Mittel aus neuen Verteidigungsfonds bereitzustellen. Derzeit befindet sich das European Defence Industrial Programme (EDIP) mit einem Volumen von 1,5 Milliarden Euro in Verhandlung. Dieses Programm, das bis 2027 laufen soll, könnte teilweise zur Finanzierung der Drone-Wall-Technologien genutzt werden – etwa für die gemeinsame Beschaffung von Sensoren oder Waffen durch mehrere Mitgliedstaaten.
Auch der bereits bestehende Europäische Verteidigungsfonds (EDF) – bislang vor allem für Forschungsprojekte vorgesehen – könnte künftig Maßnahmen zur Drohnenabwehr fördern. Zudem wird diskutiert, Teile der Europäischen Friedensfazilität (eines außerkonventionellen Fonds, aus dem unter anderem Waffenlieferungen an die Ukraine erstattet werden) für Drohnenabwehrprojekte umzuwidmen, sofern dies rechtlich zulässig ist.
Neben EU-Haushaltsmitteln spielen jedoch auch nationale Verteidigungsbudgets eine zentrale Rolle. Die Kommission stellt klar, dass die Mitgliedstaaten selbst ebenfalls finanzielle Beiträge leisten müssen. Viele Länder haben bereits begonnen, entsprechende Mittel für die Drohnenabwehr bereitzustellen. Die EU setzt dabei auf einen Multiplikatoreffekt: Durch einen Grundstock an EU-Geldern für koordinierte Anschaffungen sollen zusätzliche nationale und private Investitionen angestoßen werden, um die benötigte Technologie rasch bereitzustellen.
Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) hat signalisiert, Kredite im Rahmen des Projekts vergeben zu wollen, um Unternehmen mit günstiger Finanzierung den Ausbau ihrer Produktionskapazitäten zu ermöglichen.
Insgesamt ist damit ein Finanzierungsmix aus EU-Mitteln, nationalen Geldern und Industriekapital vorgesehen, um die Drone Wall zu realisieren. Dabei soll es zügig gehen: Bereits im Oktober signalisierten mehrere EU-Staaten ihre Bereitschaft, kurzfristig Haushaltsmittel freizugeben, um erste Sensoren zu beschaffen und bestehende Lücken zu schließen.
Dennoch warnen Beobachter, dass die Finanzierung der Bedrohungsentwicklung weiterhin hinterherhinkt. Es herrsche gewissermaßen „Panik“, da bislang keine gesicherten Geldzusagen für das gesamte System vorliegen. In den kommenden Monaten wird die Politik liefern müssen, um zu verhindern, dass dieses ambitionierte Projekt am finanziellen Aufwand scheitert.
Fazit
Die European Drone Defence Initiative ist ein überfälliger Schritt, nachdem die jüngsten Drohnenvorfälle die Lücken in Europas Luftverteidigung schonungslos offengelegt haben. Die rasche Reaktion der EU nach den Zwischenfällen in Polen und Dänemark wird weithin als „beachtlich schnelles Vorgehen“ gelobt – die kurzfristig einberufene Ministerrunde am 26. September 2025 zeigt, dass Europa in Krisensituationen koordiniert handeln kann. Die Betonung europäischer Zusammenarbeit zieht sich durch viele Kommentare, und mit Unternehmen wie Hensoldt verfügt der Kontinent über die technologische Expertise für eine konkrete Umsetzung.
Dennoch bleiben kritische Fragen offen. Experten warnen, die EU dürfe die sogenannte Drone Wall nicht als alleinige Antwort auf Russlands hybride Kriegsführung betrachten. Der German Marshall Fund argumentiert, solche Maßnahmen seien zwar notwendig, würden jedoch letztlich nur Symptome bekämpfen. Moskaus Kalkül, den Westen durch Störaktionen abzulenken und Ressourcen zu binden, könnte aufgehen, wenn Europa Milliarden in Abwehrsysteme statt in die Unterstützung der Ukraine investiert. Sicherheitsanalyst Daniel Hegedüs fordert daher, der Westen müsse nicht nur defensiv auf taktische Manöver reagieren, sondern offensiv Russlands Kosten erhöhen – etwa durch die Lieferung von Langstreckenwaffen an Kiew.
Darüber hinaus kristallisieren sich die zentralen Streitpunkte heraus: Wer zahlt wie viel? Wer profitiert in welchem Maß? Wie lässt sich die Initiative in die NATO-Strukturen integrieren? Und kann sie rechtzeitig Wirkung entfalten? Die kommenden Monate – geprägt von Verhandlungen, technischen Tests und ersten Pilotinstallationen – werden zeigen, ob die EU diese Kontroversen befrieden kann.
Mit einem Zeitplan, der bis Ende 2026 erste operative Kapazitäten und bis Ende 2027 volle Einsatzfähigkeit vorsieht, ist die European Drone Defence Initiative weit mehr als ein technisches Projekt. Sie ist ein Test für Europas Fähigkeit, in einer fragmentierten politischen Landschaft gemeinsam zu handeln, nationale Interessen auszubalancieren und eng mit der NATO zu kooperieren. In einer Zeit wachsender Bedrohungen wird sich zeigen, ob Europa den Schritt von der Planung zur Umsetzung schafft – und damit nicht nur seine Lufträume, sondern auch seine Glaubwürdigkeit als sicherheitspolitischer Akteur verteidigen kann.
