Im Jahr 2022 wurde auf dem NATO-Gipfel in Madrid das neue NFM (New Force Model) beschlossen. Dieses sieht unter anderem die Ablösung der bisherigen VJTF (Very High Readiness Task Force) durch die ARF (Allied Reaction Force) vor. Dieser Schritt erfolgte als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten der NATO zu stärken.
Entstehung
Die NATO hat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 erkannt, dass ihre bisherigen schnellen Eingreifkräfte, die NRF mit der VJTF als Speerspitze, nicht ausreichen würden, um einen Angriff glaubwürdig abzuschrecken oder NATO-Territorium zu verteidigen. Daher beschlossen die Bündnispartner ein neues Streitkräftemodell – das NATO New Force Model (NFM). Dieses Konzept wurde auf dem NATO-Gipfel in Vilnius 2023 verabschiedet, auf dem auch die neuen regionalen Verteidigungspläne vereinbart wurden. Die Allied Reaction Force (ARF) wurde als schnelle Eingreiftruppe dieses neuen Modells aufgestellt und zum 30. Juni 2024 offiziell als Nachfolger von NRF und VJTF in Dienst gestellt.
Die bisherige NATO Response Force (NRF) umfasste rund 50.000 Soldaten an Land, aufgeteilt in drei Brigaden. Sie wurde unterstützt durch eine Flugzeugträgerkampfgruppe sowie durch Luftstreitkräfte mit einer Einsatzkapazität von bis zu 200 Missionen pro Tag.
Ein zentrales Element war die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), die aus etwa 5.000 Soldaten bestand und durch zusätzliche Unterstützungselemente von bis zu 20.000 weiteren Soldaten ergänzt werden konnte.
Im Vergleich dazu ist das neue NATO Force Model deutlich umfangreicher: Bereits die erste Stufe, „Tier 1“ genannt, umfasst 100.000 Soldaten, die innerhalb von zehn Tagen einsatzbereit sein sollen. In „Tier 2“ folgen weitere 200.000 Soldaten, die innerhalb von 30 Tagen mobilisiert werden können. In „Tier 3“ stehen bis zu 500.000 weitere Soldaten zur Verfügung, die innerhalb von 180 Tagen abrufbar sind.
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Zweck und Aufgaben
Die Allied Reaction Force (ARF) umfasst 40.000 Soldaten und bildet innerhalb der Tier-1-Kräfte die Speerspitze der NATO. Ziel ist es, die Abschreckung zu stärken, die Reaktionsfähigkeit zu erhöhen und eine klare Kommando- und Führungsstruktur zu etablieren. Die ARF ist dabei in die strategische Gesamtinitiative Deterrence & Defence of the Euro-Atlantic Area (DDA) eingebettet. Sie untersteht direkt dem SACEUR (Supreme Allied Commander Europe), der zugleich Oberbefehlshaber aller NATO-Streitkräfte ist und Zugriff auf die nationalen ARF-Ressourcen hat. Das NATO Rapid Deployable Corps Italy (NRDC-ITA) fungiert – zunächst für drei Jahre – als Hauptquartier der ARF. Auf Dauer soll jedoch eine eigene Struktur entstehen.
Als multidomain-fähige Truppe operiert die ARF nicht nur zu Land, sondern auch in der Luft, zur See, im Weltraum und im Cyberspace. Neben der Bedrohung durch Russland gehören auch Terrorismusbekämpfung, schnelle Krisenreaktion, Eskalationskontrolle, Anfangsoperationen, humanitäre Hilfe und Cyberabwehr zu ihren Aufgaben. Insgesamt ist die ARF deutlich größer und flexibler aufgestellt als die VJTF, um effektiv auf ein breites Spektrum möglicher Szenarien reagieren zu können.
Struktur und Kommandostruktur (Stand 2025)
Unter dem NATO Rapid Deployable Corps Italy (NRDC-ITA) werden jährlich wechselnde nationale Truppenkontingente zusammengefasst, die die Einsatzformation der ARF bilden. 2024 stellte Großbritannien das erste ARF-Kontingent mit der 1st (UK) Division als Leitverband, unterstützt von spanischen und italienischen Einheiten. Ab Mitte 2025 übernahm Italien mit der Divisione “Vittorio Veneto” die Führung des zweiten Kontingents, zu dem unter anderem französische und spanische Kräfte sowie eine multinationale Logistik- und Marinekomponente gehören.
Neben den Land-, Luft- und Seestreitkräften binden die ARF-Strukturen auch das Allied Air Command der NATO, das NATO Space Centre und das Cyber Operations Centre ein, um alle Dimensionen moderner Kriegführung abzudecken. Die Bereitschaftsperioden der ARF sind bewusst auf den Zeitraum von Sommer bis Sommer gelegt – in etwa von Juli bis Juni –, um besser mit den Ausbildungszyklen und dem Manöverkalender der NATO synchronisiert zu sein.
Der Deutsche Beitrag
Deutschland hat traditionell einen bedeutenden Anteil an den schnellen Eingreifkräften der NATO gestellt und baut dieses Engagement im Rahmen der ARF weiter aus. In der Vergangenheit übernahm die Bundeswehr mehrfach die Führung der VJTF, unter anderem in den Jahren 2015, 2019 und 2023. In der alten NRF waren jährlich rund 14.000 deutsche Soldaten eingeplant; im neuen NATO Force Model sind es mehr als 35.000 Soldaten der Bundeswehr für die Tiers 1 und 2. Nach den Worten des Verteidigungsministers geht die Bundeswehr damit „all in“ – nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte sind weitgehend für die Bündnisverteidigung in hoher Verfügbarkeit vorgesehen.
Im Rahmen der ARF bringt Deutschland vor allem spezialisierte, schnell verlegbare Kräfte ein und übernimmt zusätzliche Verantwortung an der NATO-Ostflanke. Auf deutsche Initiative wird unter anderem eine komplette Brigade von rund 5.000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationiert, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit an der Ostflanke zu stärken. Gleichzeitig stellt die Bundeswehr leichte Kräfte, wie etwa Fallschirmjäger, bereit, die im Ernstfall binnen weniger Tage verlegt werden können; schweres Gerät wie Kampfpanzer würde erst mit den nachfolgenden Verstärkungskräften zum Einsatz kommen. Weitere deutsche Beiträge umfassen die ABC-Abwehr, logistische Unterstützung sowie Führungspersonal. Darüber hinaus erfüllt Deutschland eine zentrale logistische Rolle als Drehscheibe der NATO, um Truppen- und Materialtransporte schnell durch Europa zu ermöglichen.
Übungen und Einsätze
Kurz nach der Aufstellung der ARF fand Ende 2024 deren erste praktische Bewährungsprobe statt: Etwa 200 Soldaten der ARF wurden vom 30. September bis 16. Oktober 2024 in den Westbalkan verlegt, um im Rahmen einer Übung die Einsatzbereitschaft zu überprüfen und die NATO-Mission KFOR im Kosovo zu unterstützen. Dabei operierte ein Vorauskommando der ARF in Kosovo, während ein vorgelagerter Gefechtsstand in Nordmazedonien aufgebaut wurde. Diese erstmalige ARF-Entsendung, nur drei Monate nach ihrer Indienststellung, unterstreicht die Entschlossenheit der NATO, Stabilität in der Region zu gewährleisten. Sie diente zugleich als wichtiger Test für die schnelle Verlegefähigkeit und die Kommandoabläufe des neuen Verbandes im Einsatzfall.
Im Februar 2025 folgte mit dem Großmanöver Steadfast Dart 2025 die bislang größte Bewährungsprobe für die ARF. Unter britischer Führung trainierten über 10.000 Soldaten aus neun NATO-Staaten in Bulgarien, Rumänien und Griechenland den Ernstfall. Dieses Manöver war das erste in dieser Größenordnung unter ARF-Regie und simulierte die schnelle Verstärkung der NATO-Ostflanke bei einem Konflikt mit einem ebenbürtigen Gegner. Zum Einsatz kamen dabei Kräfte in allen Dimensionen, einschließlich zahlreicher gepanzerter Fahrzeuge, Kampfflugzeuge und Marineschiffe. Die Übung demonstrierte, dass die ARF in der Lage ist, innerhalb von etwa zehn Tagen größere Streitkräfte über weite Distanzen zu verlegen und geschlossen einzusetzen, um ein angegriffenes Bündnismitglied gegen konventionelle Bedrohungen zu schützen.
Herausforderungen
Trotz ihrer Vorteile steht die Allied Reaction Force (ARF) vor erheblichen Herausforderungen. Eine zentrale Schwierigkeit ist die Aufrechterhaltung der hohen Einsatzbereitschaft: Die beteiligten Nationen müssen dauerhaft große Truppenkontingente von insgesamt 40.000 Soldaten ausrüsten, ausbilden und verfügbar halten. Dies bindet beträchtliche personelle und finanzielle Ressourcen. Schon bei der NRF bedeutete die Zuweisung von Verbänden zur Eingreiftruppe eine zusätzliche Belastung neben laufenden Einsätzen – mit dem noch größeren Umfang der ARF steigt diese Herausforderung entsprechend an.
Die Multinationalität verlangt zudem ein hohes Maß an Interoperabilität. Truppen verschiedener Länder und Teilstreitkräfte müssen nahtlos zusammenwirken – von der gemeinsamen Logistik über die Führungsorganisation bis hin zur Kommunikation über alle Einsatzdimensionen hinweg. Hinzu kommt der politische Aspekt: Ein NATO-Bündnisfall und damit der Einsatz der ARF erfordern die einstimmige Zustimmung aller Mitgliedsstaaten. Gerade für die angestrebte Reaktionszeit von maximal zehn Tagen sind jedoch schnelle Entscheidungen unerlässlich.
Darüber hinaus kann die ARF als „Speerspitze“ zwar unmittelbar reagieren, sie ist aber allein nicht in der Lage, einen umfassenden Angriff dauerhaft abzuwehren. Entscheidend ist daher die rechtzeitige Nachführung weiterer Kräfte – bis hin zu den insgesamt bis zu 800.000 Soldaten in späteren Eskalationsstufen des NATO Force Models. Dies stellt hohe Anforderungen an Mobilmachung, strategische Verlegefähigkeit und logistische Infrastruktur im gesamten Bündnis.
Zudem kämpfen viele Mitgliedsstaaten mit strukturellen Personalproblemen. Deutschland beispielsweise benötigt rund 60.000 zusätzliche aktive Soldaten, um die neuen NATO-Fähigkeitsziele zu erreichen. Ähnliche Herausforderungen bestehen auch in Frankreich, Großbritannien und Italien.
Fazit
Die Einführung der Allied Reaction Force (ARF) markiert einen Wendepunkt für die NATO. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges stellt das Bündnis wieder eine schnell verfügbare Eingreiftruppe in Divisionsgröße auf, um der verschärften Bedrohungslage in Europa begegnen zu können. Die ARF vereint Fähigkeiten aller Teilstreitkräfte und erhöht die Glaubwürdigkeit der Abschreckung gegenüber potenziellen Aggressoren.
Zugleich ist sie Teil einer umfassenderen Strategie: Parallel verstärkt die NATO ihre Präsenz an der Ostflanke, stockt Gefechtsverbände in den Frontstaaten auf und erhöht die Bereitschaft der nationalen Streitkräfte insgesamt. In der Praxis hat sich die ARF bereits in Übungen bewährt; ob sie dauerhaft erfolgreich sein wird, hängt jedoch davon ab, ob alle Alliierten langfristig die erforderlichen Mittel und den politischen Willen aufbringen, diese „schnelle Eingreiftruppe“ tatsächlich schnell und effektiv einzusetzen.
Fest steht: Mit der ARF unterstreicht die NATO im Jahr 2025 ihre Entschlossenheit und Fähigkeit, jedes Bündnismitglied im Notfall rasch zu verteidigen. Deutschland kommt dabei als logistische Drehscheibe und bedeutender Truppensteller eine zentrale Rolle zu.